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Klaus Theweleit

Allein gegen die Mafia

Als Hitchcock 1963 an einem Bild für Die Vögel herumdachte, das aussehen sollte,
als würden Bombenflugzeuge aufscheinen in den Möwen, die auf den kalifornischen
Küstenort Bodega Bay hinabstießen, und in der Panik des kleinen Ortes die
Menschen einer bombardierten Stadt, kam er auf jene Einstellung, die in der
Filmliteratur als "der Blick Gottes" bekannt geworden ist: Wir sehen im Kino die
Möwen unter einer Kamera hervorgleiten, die irgendwo am Himmel hängen muss -
aber an welchem Haken oder Kran? Da ist keiner. Und es ist keine Flugaufnahme:
Der Ort unten steht still, die Kamera bewegt sich nicht; es handelt sich um ein
filmisches Wunder. Der Imaginateur Hitchcock bastelte unentwegt an solchen
Wundern, dieses ist ein Bild aus vier Bildern: Er hatte den Ort Bodega Bay malen
lassen; der Ort, den wir unten sehen, ist ein Gemälde, fotografiert aus der
Vogelperspektive. In diesem Gemälde waren Teile schwarz gelassen, in welche die
separat gefilmte Aktion, die Panik um die brennende Tankstelle, später
einkopiert wurde. Schritt drei: Die Kamera wurde auf einem Steilküstenstück
postiert, man warf Fische in die Luft, und die Möwen kamen, wie bestellt, und
führten ihr Kunststück des Unter-der-Kamera-Hindurchtauchens vor. So hatte
Hitchcock die gewünschte Flugbewegung auf Film. Diese ließ er von zwei
angeheuerten Frauen abmalen und Bild für Bild, wie im Zeichentrickfilm, auf das
schon entwickelte Material übertragen. So entstand "der Blick Gottes" aufs
Inferno; es waren mehrere Monate Arbeit für am Ende gut zehn Sekunden Kinofilm.
Die Illusion ist perfekt und bleibt es auch dann, wenn man den technischen
Hergang kennt; man glaubt, aus 5000 Meter Höhe zu blicken, und klinkt sich ein
in den Sturzflug der Vögel. Die Intensität, mit der sich Hitchcocks
entscheidende Einstellungen einprägen, kommt aus dieser Künstlichkeit: im Kopf
entworfene Bilder, "gesehen" mit einem anderen Organ als dem Auge; zuerst
gezeichnet, dann auf Film gezaubert und auf Leinwände gebracht. Ebenso hält man
die Töne des Films auch dann noch für Möwengeschrei, wenn man ihre elektronische
Herkunft "kennt".

Auf solche Bilder war das Kino des Bildermonteurs Jean-Luc Godard nie aus. Aber
auch er montiert in seinen Filmen Bilder, von denen man sich fragt, mit "welchem
Auge" sie gesehen sind; Antwort: mit keinem Auge. Das geschichtete
Übereinanderlegen von Bildern bei Godard, das ebenso "Visionen" folgt wie das
von Hitchcock, arbeitet mit völlig anderen Mitteln. In verdichtetster Form ist
das vielleicht zu sehen in Godards Film Deutschland Neu(n) Null aus dem Jahre
1991. In die Dreharbeiten zu diesem TV-Film Godards zur Einsamkeit der DDR fiel
der Mauerfall; so wurde er zum Deutschland-im-Jahre-Neu(n)-Null-Film. (Das
Berliner Ensemble zeigte ihn zu Brechts 100. Geburtstag, um den einbalsamierten
Toten im Stahlsarg auf dem Laufenden zu halten in Sachen "deutsche politische
Geografie".)

Wie Godards früherer Deutschland-Film Alphaville ist auch Allemagne Neuf Zéro
mit Eddie Constantines (un)bewegter Furchenvisage als Landkarte aller Zeiten
unterlegt und durchzogen. Schon in Alphaville hatte Godard Eddie Constantine als
einen Mischer von Genres verwendet, indem er ihm seinen Namen Lemmy Caution aus
den Eddie-Krimis der Fünfziger und Sechziger ließ; bei Godard ein
postamerikanischer, Lyrik liebender FBI-Agent, der, aus einer entfernten Galaxie
kommend, den Auftrag hat, dem Schicksal eines dort verschollenen Kollegen,
Geheimagent wie er (Akim Tamiroff, der Rechtsanwalt Bloch aus Kafkas/Orson
Welles' Prozess-Film), nachzusteigen. Lemmy trifft auf Anna Karina, die in
Alphaville den Namen Natascha von Braun trägt, Nichte von Wernher, und damit
dies Land, das da besucht wird, als "Deutschland" ausweist: ein Land, das seine
Erinnerung suspendiert hat, nichts von seiner Geschichte wissen will.
Natascha/Karina läuft mit einer Ausgabe von Eluards Capital de la douleur durch
dies Land, in dem täglich eine Reihe von Wörtern neu verboten, aus dem Verkehr
gezogen werden; so, wie missliebige Leute dieses Landes aus dem Verkehr gezogen
werden: Godard lässt sie aus Kinosesseln nach hinten weg ins Leere kippen - der
Kinoraum als Hinrichtungsmaschine für jene, die sträflicherweise an Bildmontagen
hängen. Eine ironischere Kritik des Kinos ist keinem Kinokritiker je eingefallen
(zugleich ist es die perfekteste Beschreibung von Diktaturen jeder Couleur).

35 Jahre später, 1990, geistert Eddie/Lemmy als ehemaliger Westagent durch die
verschwindende DDR des Films Deutschland Neu(n) Null; die Mauer ist gefallen, er
durchirrt die verschwundene Ostzone und sucht den Weg nach Westen: "Which is the
way west?", im französisch gebrochenen Englisch eines originalen John-Le-Carré-
Agenten. Ich will ein Bild aus diesem Film erzählen: ein graublaues Bild mit
einer Windmühle auf einer Wiese. Die Flügel der Windmühle stehen still.
Windmühlen im Filmkontext, das sind, zumal bei Godard, die Mühlen aus Hitchcocks
Foreign Correspondent: Joel McCrea, amerikanischer Korrespondent in Europa,
kommt durch die Flügel dieser Windmühle, die sich fälschlich gegen den Wind
drehen als Zeichen für ein erwartetes Flugzeug, auf die Spur eines Agentenrings
in Holland. Es geht um die Verhinderung des Zweiten Weltkriegs durch einen
mutigen amerikanischen Zeitungsmann. Außerdem dient die Mühle in Hitchcocks
Bildkonglomerat als Garage für das Fluchtauto der Bösen des Films.

Literarisch ist "Windmühle" natürlich Don Quijote. Cervantes' Ritter wird in
Godards Film nicht nur "evoziert", er erscheint sogleich leibhaftig, mitten in
der abgetauchten DDR 1990, auf der Landstraße; die traurige Gestalt auf einem
Gaul, mit Lanze, auf dem Kopf eine Art Tommy-Helm aus Goya und Picasso. Er
reitet von rechts ins Bild, in dessen Zentrum man einen Trabi sieht, der
angeschoben werden muss. Hinten im Bild die Mühle. Agent Eddie Constantine tritt
von links hinzu, Koffer in der Hand. Er guckt sich das Ensemble interessiert an,
überlegt, ob er mitschieben soll oder weiß der Teufel. Diesem Gespenstertableau
- alles ist in einem Bild - geht ein Schrift-Insert voraus: Finis Germaniae, die
Einsamkeit der Geschichte. Eddie fragt den Ritter: "Which is the way west?" Der
Ritter antwortet: "Vielleicht sind alle Drachen am Weg nur verzauberte
Prinzessinnen, die wach geküsst werden wollen", ein Satz aus dem Don Quijote,
der sich im Bildkontext auf den lahmenden Trabi bezieht, aber ebenso auf eins
dieser riesigen Braunkohlebergwerke der DDR, dessen Bild die ganze Sequenz
eingeleitet hat: dazwischengeschnitten eine Seite aus Kafkas Schloss-Roman. Man
"sieht" - mit was für einem Auge eigentlich? - dieses Riesending von
Braunkohlebergwerk nun als Exemplar jener Art von Industrieschloss, die das
Kafka-Schloss des Landvermessers K. beerbt hatte: die Schlösser der
Nazigroßindustrie, als deren sieches Erbe das unproduktive und umweltvergiftende
Rieseninsekt in der DDR weiterweste und das irgendwie immer noch lief, 1990. Der
immer noch nicht anspringende Trabi wird auf dies Monster zugeschoben und nun
überholt von dem Ritter auf dem Pferd, der ebenfalls auf den Saurier von
Förderkran zureitet, als wäre das sein Ritterschloss. Die Räder dieses Dings
drehen sich wie Drachenflügel und quietschen entsprechend feuerschnaubend. Eddie
Constantine sieht noch einmal hin, wendet sich dann ab und verlässt das
Blickfeld nach links. Da laufen ein paar Hunde, und Eddies Stimme aus dem Off
merkt an, dass heute ja übrigens Mozarts Geburtstag sei.

Den Mythosblick aus dem Ritterroman, den filmgeschichtlichen Blick aus
Hitchcock, den Blick aus Kafka auf die akute Braunkohleruine, den Blick aus den
Kalter-Krieg-Spionageromanen zerlegt Godard nicht in vier Blicke, hintereinander
geschnitten; er legt die Blicke in ein einziges Bild zusammen: Blick auf den
Ritter, auf den Trabi, auf die Windmühle, auf Lemmy Caution, den abmusternden
Westagenten, der außerdem noch Eddie Constantine ist, dinosaurieralt, in dessen
Haltung und Zügen sich alles Wissen vom Mehrbödigen dieser Welten so klar
ausdrückt wie sonst nur in Zügen und Haltung von etwa Robert Mitchum; und was an
diesem Personal beweglich ist, bewegt er, wieder in einer Einstellung, auf das
Braunkohlebergwerk zu. Keine Eisensteinsche Montage also des divergenten
Nacheinander, aus der zwingend ein bestimmter Gedanke sprüht; vielmehr eine
Blickverdichtung in jeweils einem Bild; hier ein Bild, das zeitlich vom Madrid
der Jahre um 1610, vom spanischen Imperialismus, der nach dem Verlust der Armada
den Löffel abgibt an die Engländer und abtritt von der Großgeschichte, über die
Geschichte der Drachen in Deutschland, von den Nibelungen bis zur Hitler-
verbundenen Großindustrie reicht und weiter bis zu den Überresten der
Sowjetdemontage, bis ins Deutschland des Postmauerfalls 1990, im Jahre neu(n)
null.

Es ist auch noch ein Kommentar zur Farbe Blau darin: Nicht mehr das des
stählern-schmiegsamen Samts von El Greco wie in Godards früherem Film Passion
leuchtet hier, nicht das alle anderen Farben generierende und überstrahlende
tyrrhenische Monet-Blau aus Le Mépris, es ist das Blau der Einsamkeit, der
Einsamkeit der Geschichte, das der Film in den Großbuchstaben der Zwischentitel
mehrfach beschwört: das Blau, das aus der Kälte kam.

Gedanklich ist das Bild in den Komplex "Die-Welt-nach-einem-Buch-Machen"
montiert. Den hat Cervantes mit seinem Quijote-Ritter als einen Wahn vorgeführt.
So wie die DDR ihr Land nach einem Buch machen wollte, nach Marx. Man sieht also
den Gedanken: Der real existierende Sozialismus war ein Windmühlenflügel aus
Marx sowie aus Hitchcocks holländischer Windmühle, die hinzufügt: WK II wurde so
unaufhaltsam herbeigearbeitet, wie der Wind weht; so unaufhaltsam, wie im Kalten
Krieg der real existierende Sozialismus verschwand, der jetzt, in Deutschland
Neu(n) Null als verlassene Windmühle, vor der ein Trabi nicht anspringt, den
Kopf nach den Kühen dreht. Godards Bild ist nicht nur ein wirkliches Zeitbild,
wie Deleuze das nannte, es ist eine Zeitkompresse: ein schon in der Inszenierung
seiner Leute und Gegenstände verdichtet montiertes Bild, knapp 15 Sekunden
sichtbar; die ganze "Drachensequenz" geht etwa drei Minuten. Gesprochener Text
allein dies: "Which is the way west" und der Satz mit den wach zu küssenden
Prinzessinnen am Wegrand ...

In einer anderen Bildkompresse des Films legt Godard Goethes/Thomas Manns Lotte
in Weimar mit Freuds Dora zu einer Figur zusammen und lässt aus Eddie
Constantines Memory die andere Dora, das Konzentrationslager bei Nordhausen,
dazutreten, das Lager, aus dem die SS sich Arbeitskräfte holte für Hitlers
finalen Raketenbau. An Freuds (misslungenem) Versuch der Lösung des Rätsels der
weiblichen Hysterie wie an Hitlers (misslungenem) Versuch, die Probleme des
deutschen Imperialismus mit einer schlanken Rakete zu lösen, klebt das gleiche
Wörterschild: ein Frauenname, Dora; ein Name, hinter dem, als Lotte, die
(misslingenden) Dichterlieben hervorlugen; Godard setzt dazu Eddie Constantines
Gesicht so ins Bild, als würde Lemmy dies alles entdecken und denken. So wie
Bogart bei Hawks immer aussieht, als denke er die ablaufende Geschichte, denkt
aber nichts. Es sind solche Ekstasen der Zeiten- und Bildermischung, die aus dem
preußisch-graublau-tristen Film ein Abenteuer des Sehens machen; denn triste
Kunst gibt es nicht, hat es nie gegeben, es gibt nur gelingende oder
misslingende.

Nicht dass es nicht Verwerter solcher Verfahren anderswo gäbe: Manche
Musicvideoclips haben aus solchen Bildschichtungen gelernt. Sie präsentieren
uns, wo sie klappen, Spielfilme, komprimiert auf drei Minuten Länge, durchaus im
Bewusstsein der Filmgeschichte; befeuert von, wenn's hinhaut, zeitenmischenden
Musikkompressen. "Wahrnehmen" kann all dies kein Mensch beim einmaligen Sehen im
Kino und oft auch nicht beim Videoclip vorm TV. Der Clip ist dabei per
definitionem auf Wiederholung angelegt; ist nicht nur "Bild und Ton", sondern
auch Werbung. Und Godards Film(e)? Ich denke, sie haben (zunächst widerwillig)
darauf reagiert, dass es Video gibt; dass es durch die Tatsache Video "den Film"
als Bibliothek heute potenziell gibt (für jene, die Video entsprechend nutzen);
man kann in Filmen blättern, seit zwei Jahrzehnten, wie in Büchern; mehrmals
sehen, wiederfinden, neu entdecken. Mir scheint, Godards späte
Montagekondensate, seine Methode, den Schnitt gleich in die Inszenierung zu
verlagern und die Dinge "das Ihre" zum Bild beitragen zu lassen - seine heutige
Form des "Dokumentarismus" enthält die Tatsache Video ebenso wie ein Nachdenken
über die Tatsache "synthetisches Computerbild". Von 1972 bis 1980 hat Godard
überwiegend mit Video gearbeitet.

Hier liegt eine entscheidende Differenz zu Hitchcocks Bildern. Hitchcocks "Blick
Gottes" aus den Vögeln ist heute herstellbar von jedem Computer mit
entsprechender Rechnerkapazität und genügend versierten Händen auf der Tastatur.
Hitchcocks Verfahren der Bildmontage via raffiniertester Kamera- und
Kopiertricks ist vollkommen in der Computertechnologie aufgegangen. Godards
Montagen nicht. Sie denken Gedanken (oder rufen solche hervor), die der Computer
weder denken noch zeigen kann, einmal weil ihm das historische Bewusstsein
fehlt, dann aber auch durch die Materialität dessen, was Godard auf Leinwand
oder Monitor zeigt: ein Bild, das buchstäblich nicht zu sehen, aber da ist.
Niemand hat die verschwundene DDR so gezeigt; und kein Computer kann dies Bild
rechnen, da es sowohl Bild als auch Denken ist, Godard-Bild im Godard-Film.
Peter Handke kam 1967, nach dem ersten Dutzend Filmen von Jean-Luc Godard, auf
diese Formulierung: Außer dem Western, dem Krimi und so weiter gebe es jetzt
auch den Godard-Film, ein eigenes Genre. Das war richtig gesehen, hat aber die
Filmbranche so gut wie nicht beeindruckt. "Der Godard-Film" als Kategorie ist
vor allem eine Sache der Zuschauer geblieben; derer, die ihn lieben und die sich
in einem Godard-Film anders fühlen als sonst irgendwo auf der Welt. Godard hat
eine Community gestiftet, einen Verband von Sehern; Leute, die wissen, dass das
20. Jahrhundert nicht kennt, wer Godard nicht kennt. Bei den Filmemachern
überwog dagegen eher die Macht der Industrie beziehungsweise des Fernsehens: die
Macht der Produzenten. Sie haben wenig dazu getan, den Godard-Film so zu
entwickeln, wie er es verdient hätte und wie es auch gegangen wäre. Oder sollte
es die Fähigkeit von JLG allein (gewesen) sein, das, was wir Denken nennen, in
einer Folge von Bildkonstruktionen, Bild- und Tonmontagen zu entfalten?

Einem komischen (alten) Gesetz folgend, nehmen Europas Buchstabenmenschen bis
heute an, Denken gehe (eher) bilderlos. Godards leichthändiger Gegenbeweis wurde
nicht wahrgenommen beziehungsweise erfolgreich bekämpft. Man sieht das unter
anderem an der Wertschätzung, die heute die so genannte Philosophie wieder
genießt. Erscheinungen wie Sartre, Habermas oder Luhmann waren im Godard-Film
längst abgeschafft, von Anhäufern akademischen Populärschutts wie P. Bourdieu zu
schweigen. Der Godard-Film war immer meilenweit weiter im Realen als alle diese.
Man sehe sich Forever Mozart an, Godards Film vom Krieg in Bosnien, 1996; eine
Hand voll "Kriegsbilder" reicht ihm aus, zu zeigen, dass sich für das Bosnien
der neunziger Jahre wenig geändert hat gegenüber dem Godard-Film Die Karabinieri
von 1963: Irgendwelche Leute, die mehr oder weniger zufällig über ein Gewehr
verfügen, erschießen solche, die mehr oder weniger zufällig über keins verfügen;
man lässt sie ihre Gruben schaufeln, bevor man sie hineinschießt, Frauen zieht
man manchmal vorher aus und geht ihnen an den Körper; knapp fünf Minuten
Schießkarussell und ein nackter Frauenfuß, der aus einer Grube ragt, dazu die
Rotkreuzler, die "drinnen" ihren Schnaps trinken, während "draußen", vor ihrem
Fenster, gemordet wird; sie bleiben als Godard-Bilder im Kopf. In seinen
Histoire(s) de Cinéma sagt Godard dazu: "Die Zivilisation ist in den Völkern -
die Barbarei ist in den Regierungen." Das ist einer der wenigen Momente, wo man
ihn möglicherweise einer Illusion nachhängen sehen kann ...

"Immer meilenweit weiter im Realen": Pech für die Leute, dass sie es nicht
wissen. Es entgeht einem im Leben sowieso das meiste, warum nicht auch der
Godard-Film; Diamanten besitzen (persönlich) auch nur die Großgangster, sie
schenken sie ihren Frauen, die damit, wenn sie Glück haben, vielleicht aussehen
wie bei Lubitsch, bei Scorsese oder im Renoir-Film. Film ist nicht als das
wirklich Neue des 20. Jahrhunderts wahrgenommen worden, das er tatsächlich ist;
auch wenn dies Neue, worauf Godard besteht, nur umsetzte und ausführte, was
Errungenschaften des 19. Jahrhunderts waren: den Roman, die Malerei, den
"Einstieg in die Seele" - Proust, Manet, van Gogh, Freud. Der Godard-Film wollte
und will mehr; wollte vor allem hinaus über die geschlossenen Welten des (in
Teilen geliebten) US-Films: "Bei bestimmten Filmen hatten wir den Eindruck, dass
der Regisseur nicht einfach nur ein Angestellter des Studios war"; "Filmautor"
im Selbstverständnis der Nouvelle Vague. In Godards filmpolitischen Reden heute
ist Hollywood das Objekt von Wutausbrüchen außerdem deshalb, weil die
amerikanische Filmindustrie ihre Monopolansprüche auf die Beschickung der Kinos
der Welt immer unverhohlener und mafioser, erfolgreich also, betreibt.

Kino (wie auch das Leben) als Nichtmafiageschäft: Von daher wäre der Godard-Film
auch beschreibbar. "Einen Platz auf der Erde" für sich und seine Arbeit fordert
der Filmregisseur, auch genannt "der Idiot", in Godards Film Schütze deine
Rechte (1988) - zunehmend schwieriger in einer Welt, in der fast nichts mehr
Nichtmafia ist, Ökonomie, Politik, Literaturbetrieb. Die Kinder im Kindergarten
werden ausgebildet zu Mafiosi; den weniger Glücklichen, denen es zu dieser
europäischen Norm nicht reicht, bleibt der Baseballknüppel.

Über die alten Filme selbst gebietet eine Besitzmafia: 1995, als das Kino 100
Jahre alt wurde (definiert vom Moment der ersten öffentlichen Vorführung mit
Eintrittsgeld an), hat Godard den TV-Film Zweimal 50 Jahre französisches Kino zu
machen versucht. Versucht: Anstelle von Filmausschnitten, die er gern gezeigt
hätte, sieht man immer wieder das Insert No copyright, in wechselnden Farben.
Die Filmausschnitte gehören jemandem und waren nicht bezahlbar; so begnügt sich
Godard mit dem Soundtrack der gewünschten Szenen, während auf dem Schirm das No
copyright erstrahlt. Dafür ist Michel Piccoli entsprechend länger im Bild,
Präsident der französischen Vereinigung der Förderer des Kinos und Freund
Godards.

Godard wird am 3. Dezember 70, Hitchcock wäre nun 100, und das Kino ist 105.
Godard war gegen die Feier von "100 Jahre Kino". Er zitiert Lewis Carroll: Statt
einmal alle 100 Jahre hätte man lieber jeden Tag gratulieren sollen: "Herzliche
Glückwünsche zum Nichtgeburtstag"; dann stünde es anders mit dem Godard-Film und
dem Film überhaupt.

Wer gratuliert heute? Immerhin das ZDF, Heimkino, mit 20-mal Godard-Film. Arte
zeigte Godards fünfteilige Histoire(s) de Cinéma, sein Hauptwerk der letzten
Jahre. Manfred Eichers ECM-Produktion hat eine dreisprachige Buchausgabe mit dem
Sound der Histoire(s) auf CDs herausgebracht. Ein zuständiges Gremium reagierte
mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik. Wunderbar. Das große Kino, für
das Godard gearbeitet, gelebt hat, gratuliert nicht. Der letzte Godard-Film, der
in die Maxxiplexxe kam, war Nouvelle Vague, 1990; vermutlich wegen des Gesichts
von Alain Delon. Gott segne die Popcornpaläste; woher sonst bekämen "die
Jungen", die im Jahr 2000 nicht anders "am Kino hängen" als die von 1950, ihre
notwendige Nahrung, Pulp Fiction?

So bleibt nur, sich selbst zu gratulieren, täglich, sich weiter zu immunisieren
gegen das Geschrei des Mainstreams, bei ihm tobe das wahre Leben. Sie sollen uns
am Arsch lecken, 365-mal im Jahr, das ist auch ein Geburtstagswunsch.

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